In früheren Zeiten war es normal, Kinder sterben zu sehen
Die Pest (Arnold Böcklin, 1898)
Wer seine Ehepartnerin oder seinen Ehepartner verloren hat, ist «Witwer oder Witwe». «Waise» ist, wer seine Eltern verloren hat. Es gibt aber kein Wort, mit dem der Verlust eines Kindes bezeichnet wird. Jahrhundertelang war es leider «normal», sein Kind an einer Krankheit sterben zu sehen. In der Schweiz sind im Jahr 1876 (Beginn der Statistik der Sterbefälle) ungefähr 200 von 1000 Säuglingen gestorben, bevor sie das erste Lebensjahr vollendet hatten. Die Säuglingssterblichkeit ist heute glücklicherweise auf ca. 3.1 von 1000 gesunken.
Dieser spektakuläre Fortschritt ist vor allem der Einführung der Impfprävention zu verdanken, natürlich verbunden mit Hygiene und guter Ernährung. Denn wenn der Grossteil der Bevölkerung gegen den Erreger (Virus oder Bakterium) einer ansteckenden Krankheit geimpft ist, profitiert sie von einer Herdenimmunität: Selbst wenn eine Person infiziert ist, kann sie den Erreger nicht auf Andere übertragen, weil ihr Umfeld bereits immunisiert ist. Dadurch sind auch Personen, die nicht geimpft werden können – insbesondere Neugeborene und Menschen mit geschwächter Immunabwehr – durch die Immunität der Gruppe geschützt. Mit welcher Impfrate diese Herdenimmunität erreicht werden kann, hängt von den Krankheiten ab: Je ansteckender eine Krankheit, desto höher muss die Impfrate sein. Es sind zum Beispiel 95% bei Masern und 70% bei Hepatitis B.
Epidemien verändern die Geschichte
Schon seit der Antike waren die Zivilisationen mit verschiedenen Ausbrüchen von Epidemien konfrontiert, die häufig mehrere Jahre dauerten. Traurige Berühmtheit haben in Europa Pest, Cholera, Pocken und Typhus erlangt. Als Begleiter von Hungersnöten, Kriegen oder Kälteperioden haben diese ansteckenden Krankheiten nacheinander oder gemeinsam gewütet und sind im Laufe der Jahrhunderte aufgetaucht und wieder verschwunden. Die bedeutendste Epidemie in Europa ist die schwarze Pest, die in den Jahren 1347 bis 1352 25 bis 50% der Bevölkerung dahingerafft und grosse Veränderungen in der Wirtschaft, der Geopolitik under Religion ausgelöst hat.
Nach diesen historischen Epidemien waren die Menschen, die sie überlebt hatten, gegen die verursachenden Erreger immunisiert. Nur Kleinkinder konnten noch von den Infektionskrankheiten befallen werden, weil sie noch nie Kontakt mit den Erregern hatten. Dadurch werden zum Beispiel Masern sehr häufig – aber fälschlicherweise – als Kinderkrankheit wahrgenommen. Das Gleiche gilt für die Pocken (auch «Blattern» genannt). Sie wurden durch ein besonders ansteckendes Virus hervorgerufen, das lange Zeit gewütet hat. Dank der ab 1958 weltweit durchgeführten grossen Impfkampagnen konnten die Pocken aber 1979 ausgerottet werden, so dass das Impfprogramm eingestellt werden konnte. Kinderlähmung (Poliomyelitis) oder Diphtherie, die vor allem Kinder trafen, sind in den meisten Regionen der Welt nunmehr ebenfalls unter Kontrolle. Selbst die sehr ansteckenden Masern treten in Regionen der Welt, in denen die Impfrate ausreichend hoch ist, nicht mehr auf. Auf der anderen Seite zeigen jüngste Entwicklungen, dass die Kontrolle gerade dieser beiden Erreger darauf angewiesen ist, dass die Impfraten hoch gehalten werden. Wo durch Kriege, Armut oder anderes Geschehen die Impfraten abfallen, droht das erneute Aufflackern von Diphtherie und Polio.
In der Schweiz sind auch die Cholera-Epidemien im 19. Jahrhundert am in Erinnerung geblieben. Betrachtet man jedoch die Anzahl erkrankter Personen und die Todesfälle, so sind der Cholera weniger Menschen zum Opfer gefallen als der Tuberkulose oder der spanischen Grippe von 1918, die den Tod von 21 000 Menschen in der Schweiz verursacht hat. Von ihnen waren 70% zwischen 20 und 49 Jahre alt.
Ausbruch, Epidemie, Pandemie
Man verwendet im Allgemeinen drei Begriffe, mit denen das Ausmass von Ansteckungen beschrieben werden kann. Man spricht von «Ausbruch», um das plötzliche Auftreten einiger Fälle zu beschreiben. Von «Epidemie» ist die Rede, wenn eine grössere Gegend, ein Land oder ein Grossregion einer ansteckenden Infektion betroffen sind. Und man spricht von «Pandemie», wenn sich eine Krankheitswelle auf einen oder mehrere Kontinente erstreckt.
Eine Epidemie oder Pandemie kann durch ein bereits bekanntes Bakterium oder Virus verursacht werden, wenn aufgrund des Anteils der geimpften Personen kein Schutz durch Herdenimmunität (mehr) besteht. Sie kann auch auf einen neu aufgetretenen Erreger zurückzuführen sein, wie AIDS im Jahr 1983, die Schweinegrippe im Jahr 2009 oder das CoronavirusSARS-CoV-2, das von 2020-2022 die COVID-19 Pandemie verursacht hat.
Bei der jährlichen saisonalen Grippe handelt es sich um eine ansteckende Krankheit, die durch mehrere, gleichzeitig zirkulierende Stämme desInfluenza-Virus hervorgerufen wird. Neue Stämme treten regelmässig durch Mutation oder Kreuzung auf und schaffen so neue Bedrohungen für die Bevölkerung. Ziel der Grippeimpfstoffe ist es daher, die Bevölkerung gleichzeitig gegen mehrere Stämme zu immunisieren: bereits bekannte Viren und neue Mutanten. Letztere fürchten die Spezialisten am meisten, denn sie können Pandemien auslösen, wie bereits 1918, 1957, 1968 und 2009.
The “Pandemic Gap” in Switzerland across the 20th century (Swiss Medical Weekly, 12.11.2020)
Vier Familien von Epidemien
Epidemische Erkrankungen können je nach Übertragungsart in vier Familien unterteilt werden:
- Krankheiten des Verdauungssystems: Durchfälle, Cholera, Salmonellen usw. Sie werden vor allem durch Wasser übertragen, das mit Fäkalkeimen verunreinigt ist.
- Krankheiten, deren Erreger sich durch Tröpfchen, die beim Husten und Niesen entstehen, übertragen: Diphtherie, Grippe, COVID-19, Masern, Tuberkulose usw. Die Ansteckung erfolgt durch Einatmen der infizierten Tröpfchen, die in der Luft schweben oder sich auf Nahrungsmitteln oder Gegenständen niedergeschlagen haben.
- Sexuell übertragbare Krankheiten: AIDS, Syphilis, Hepatitis B, humane Papillomaviren usw.
- Durch Stiche oder Bisse von Tieren (Mücken, Zecken, Flöhe)) übertragene Krankheiten: Zeckenenzephalitis (FSME); Malaria, Gelbfieber, Denguefieber, Zika usw.
Falsches Sicherheitsgefühl
Das Wissen um die verfügbaren Medikamente kann zum Gefühl führen, vor grossen Epidemien geschützt zu sein, die das Leben der Menschen in der Vergangenheit überschattet haben. Doch das ist ein Irrtum: Ein Massensterben ist jederzeit möglich. Unaufhörliche Bewegungen von Gütern und Menschen quer über den Planeten erhöhen sogar das Risiko. Dies gilt um so mehr, als zu viele Personen ihren eigenen Impfschutz oder den Impfschutz ihrer Kinder vernachlässigen. Sie fühlen sich sicher, weil die anderen sich impfen lassen: Die Impfrate fällt dann unter die Schwelle, die die Herdenimmunität gewährleistet. Daher sind in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten mehrere grosse Keuchhusten- (1994/1995) und Masern-Epidemien (2006 bis 2009) aufgetreten – Krankheiten, die eigentlich eingedämmt bleiben könnten.
Der rasante Klimawandel der letzten Jahre führt zudem dazu, dass sich Erreger in Gegenden ausdehnen können, deren Klima bislang verhinderte, dass sie ansässig werden könnten. Hierzu gehört beispielsweise das Dengue-Virus, das eigentlich eine tropische Infektionskrankheit ist. Für seine Übertragung auf den Menschen ist es auf Mückenarten angewiesen (z.B. Tigermücke), die sich erst kürzlich hierzulande ansiedeln konnten. Sie haben erlaubt, dass Dengue-Fieber in unseren Nachbarländern bereits mit zunehmender Häufigkeit beobachtet wird und auch auf die Schweiz übergreifen kann.
Impfstoffe für den individuellen Schutz
Impfstoffe tragen nicht nur dazu bei, schwere, von Mensch-zu-Mensch ansteckende Krankheiten unter Kontrolle zu bringen oder sogar auszurotten. Sie schützen das Individuum zudem vor nicht ansteckenden Infektionskrankheiten wie Starrkrampf (Tetanus) oder FSME In diesen Fällen spielt die Herdenimmunität keine Rolle: Eine solche Krankheit können sich ungenügend Geimpfte auch dann zuziehen, wenn alle Menschen im eigenen Umfeld gut immunisiert sind.